Der "Happy Planet Index" – Empirischer Maßstab für einen zukunftsfähigen Bildungsdiskurs ?

Zur interaktiven Karte mit länderspezifischen HPI-WertenWeltweiter Vergleich der Lebenszufriedenheit im Verhältnis zum Ökologischen Fußabdruck (HPI) pro Land. Grün steht für positive Werte, Gelb für mittlere Werte, Rot für schlechte Werte.

Der Bildungsbegriff bildet in der deutschsprachigen Tradition der Didaktik Maßstab und Perspektive für alle Arten didaktischer Entscheidungen, zumindest dort, wo Unterricht von professionell ausgebildeten Lehrkräften organisiert wird, wie z.B. bei den über 700.000 hauptamtlichen Lehrerinnen und Lehrern an den staatlichen Schulen in Deutschland. Spätestens seit dem Übergang in die Wissensgesellschaft erhält der Bildungsbegriff einen noch weiteren Wirkungsbereich. Bildung ist nun nicht mehr ausschließlich zentrales Thema von Schule, Hochschule und Kindergarten, sondern Bildung begleitet uns heute ein Leben lang als zentraler Faktor in allen gesellschaftlichen Bereichen. Mit Bildung bezeichnen wir Subjektentwicklung und verändernd produktive Teilnahme an Kultur und Subkultur, Gewinnung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit, Befähigung zu Selbstbestimmung und Solidaritätsfähigkeit (Gudjons 2008, S.200). Bildungstheorie hat ihren Bezugspunkt in aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen und zielt auf Zukunft (Peukert 2000, S. 507-524). „Bildung kann sich nicht der schwierigen Aufgabe entziehen, in der Gegenwart die Vermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft leisten zu müssen. Ihre Institutionen werden lernen müssen, auf sich verändernde Rahmenbedingungen und auf neue, häufig noch ungewisse Herausforderungen flexibel und rechtzeitig zu reagieren“ (Bildungskommission NRW 1995, S. 24)

Die zentrale gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die sich uns heute stellt, ist ein immer gravierender zu Tage tretender Widerspruch zwischen dem weit verbreiteten Glauben an die Abhängigkeit unserer Lebensqualität von wirtschaftlichem Wachstum und den tatsächlichen Auswirkungen ungezügelter ökonomischer Expansion. Der Glaube an den weltweit tief verwurzelten Wachstumsmythos gerät heute ins Wanken. Eine Orientierung am wirtschaftlichen Wachstum, als scheinbarem Indikator für Lebensqualität, bringt uns, unsere Wirtschaft und unsere Umwelt zunehmend in existenziell bedrohliche Situationen. Tägliche Nachrichten in Rundfunk und Fernsehen hören sich heute genau so an, wie die fiktiven, viel belächelten Bedrohungsszenarien der 70er Jahre. Nur heute ist dies alles nicht mehr fiktiv: Eine Lebensmittelindustrie, die der Gewinnmaximierung einen höheren Stellenwert zuschreibt als unserer Gesundheit, macht Fettleibigkeit zu einem gesundheitsgefährdenden, gesamtgesellschaftlichen Massenphänomen. Mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit produzieren die großen Energiekonzerne radioaktive Abfälle, die für Millionen von Jahre ganze Regionen unseres Planeten bedrohen. Die Wachstumsfixierung der Banken führt uns von einer Wirtschaftskrise in die nächste und stabilisiert die Armut, vor allem in der dritten Welt. Der ungebremste weltweite CO2-Ausstoß führt zu immer zerstörerischeren Wetterlagen, die regelmäßig ganze Landstriche inklusive der für das Überleben notwendigen Infrastruktur vernichten. Das wirtschaftliche Wachstum als leitender Maßstab unserer gesellschaftlichen Entwicklung vermittelt heute nicht den Eindruck als könnte es uns eine lebenswerte Zukunft sichern. Auch wenn der Mythos vom Wachstum als Garant des Fortschritts noch in vielen Politiker- und Manager-Köpfen herumgeistert: jede weitere Umweltkatastrophe, jeder weitere Banken-Crash, jeder weitere Gammelfleischskandal sorgen dafür, dass sich auch die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik früher oder später der Realität werden stellen müssen.

grafik-9Wachstumsverlauf des Bruttoinlandsproduktes (GDP) von OECD-Nationen im Vergelich zum Happy Planet Index (HPI): Die Grafik macht deutlich, dass unsere Lebenszufriedenheit offensichtlich nicht mit dem Bruttoinlandsprodukt korreliert.

Wenn wir in dieser Situation auf Zukunft gerichtete Bildungsprozesse organisieren, dann bedarf es m.E. eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, der diesen Widerspruch analysiert, sich einer überfälligen Wertediskussion stellt und damit Perspektiven für die Zukunft schafft. Bildungsprozesse sind immer auf Zukunft gerichtet. Doch wo nehmen wir die Maßstäbe und Visionen her, die uns in eine lebenswerte Zukunft führen könnten? Hier macht die in London ansässige „new economics foundation“ (nef) einen spannenden Vorschlag: anstatt sich am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Indikator für den Wohlstand eines Landes zu orientieren schlägt nef den „Happy Planet Index“ (HPI) als Maßstab vor. Der HPI berechnet sich aus weltweit erhobenen Daten zur durchschnittlichen Lebenserwartung, zur Lebenszufriedenheit und zum Ökologischen Fußabdruck und bezieht damit im Gegensatz zum Bruttoinlandsprodukt auch das Kriterium der Nachhaltigkeit in die Berechnung eines Wohlstands-Indikators ein. Im internationalen Wettbewerb geht es dann nicht mehr um eine grenzenlose Gewinnmaximierung sondern um die Herbeiführung von Wohlstand durch eine ausgewogene Balance von Ökologie und Ökonomie.

grafik-8Zufriedene Lebensjahre im Verhältnis zum Ökologischen Fußabdruck pro Kopf

Ein am „Happy Planet Index“ orientierer Bildungsdiskurs hätte Werte zu formulieren und zu diskutieren, die uns ein menschwürdiges Leben auf einem durch ökologische Vielfalt geprägten Planeten sichern. Bildung ohne Visionen führt zur Stagnation. Brauchen wir und die nachfolgenden Generationen nicht reale Perspektiven für eine persönliche und gesellschaftliche Entwicklung?

Didaktik braucht m.E. solche Bildungsdiskurse, um authentische Lehr-Lernsituationen zu gewährleisten, in denen die Lehrenden als identifizierbare Persönlichkeiten, Moderatoren und Fachexperten auftreten und nicht als unberührbare, schemenhafte Masken. Dies gilt natürlich auch für die Mediendidaktik und das E-Learning. Wobei sich das E-Learning aus meiner Sicht längst überflüssig gemacht hat, weil es in den interdisziplinär geführten Diskursen zum Lernen oft nur an der Oberfläche bleibt und vielfach nur um sich selbst dreht, anstatt sich nützlich zu machen, mit differenzierten und in die Tiefe gehenden Anpassungen an spezifische, fachlich orientierte Bildungspraxis.

Zum VideoNic Marks, von der New Economics Foundation (nef), erläutert den „Happy Planet Index“ (HPI)

Im folgenden habe ich Studien, Artikel und Homepages zum „Happy Planet Index“ verlinkt, die Grundlage bilden könnten für eine tiefer gehende Diskussion. „Happy Planet Index 2.0“ ist eine weltweite Studie, die ein Ranking von 143 Ländern auf Grundlage des HPI ermittelt hat. Die zweite Studie bezieht sich speziell auf Europa. Im Artikel „The social context of well-being“ werden die empirischen Grundlagen für Ermittlung und Quantifizierung von „Lebenszufriedenheit“ erläutert. Alle weltweit bisher ermittelten Daten sind zugänglich in der World Database of Happiness, die an der Erasmus Universität Rotterdam gepflegt wird. Schließlich habe ich die Homepage der „new economics foundation“ verlinkt, die in Kooperation mit öffentlichen Institutionen und NGO´s die weltweite Forschung auf diesem Gebiet vorantreibt.

  • Studie: Happy Planet Index 2.0 (PDF)
  • Studie: The European Happy Planet Index (PDF)
  • Artikel: The social context of well-being (PDF)
  • World Database of Happiness, Erasmus University Rotterdam
  • Homepage: nef – neweconomics.org
  • Homepage: The Happy Planet Index 2.0
  • Video: Happy Planet Index

  • Literatur:

    • Abdallah, S., Thompson, S., Michaelson, J., Marks, N., & Steuer, N. (2009). The Happy Planet Index 2.0. London: new economics foundation.
    • Bildungskommission NRW. (1995). Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand.
    • Gudjons, H. (2008). Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
    • Peukert, H. (2000). Reflexionen über die Zukunft von Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik Heft 4/2000

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