Die E-Learning-Industrie hinkt den Potenzialen innovativer Pädagogik deutlich hinterher

Methodensammlung NRW

Das aggressive Branding der E-Learning-Industrie (Revolution des Lernens, Blended Learning, User Generated Content, Web 2.0 ) verdeckt die wachsende Kluft, die zwischen anspruchsvoller Pädagogik und E-Learning im Laufe der Jahre entstanden ist. Das E-Learning konnte seiner Vorreiterrolle in der Bildungsbranche nie wirklich gerecht werden. Ein deutliches Anzeichen dafür: die Learntec, angebliche Leitmesse für „professionelle Bildung, Lernen und IT“ verliert Jahr für Jahr in großem Umfang Besucher. Im Jahr 2009 konnte die Learntec gerade noch 5.200 Besucher verzeichnen, während die eigentliche Bildungsmesse, die didacta im Jahr 2009 mit einem Besucherzuwachs von 10% (74.000 Besucher) aufwarten konnte.

Wenn man sich mal klar macht, welches Spektrum an Methoden und Aktionsformen die Pädagogik im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat, siehe z.B. hier oder hier, dann wirken die nicht enden wollenden Marketing-Aktionen der E-Learning-Industrie tatsächlich reichlich naiv. Soziale Netzwerke, Communities of Practice, von Schülern produzierter Content, das gab es alles bereits lange, bevor das Internet die Welt eroberte. Und vor allem: diese Methoden und Sozialformen im Kontext von Lernen wurden sehr viel gründlicher reflektiert und praktiziert als das heute der Fall ist, siehe z.B: Dewey (1916),  Wenger (1991), Heimann (1962),  Frey und andere (1982) oder auch Mietzel (1973).

Lernerzentrierte Pädagogik – in Versionen beschrieben – wäre heute vielleicht bei Version 8 Punkt Null angelangt, während das Web noch in den Kinderschuhen irgendwo zwischen 2.0 und 3.0 herumdümpelt. Bedauerlicherweise fristen konstruktivistische und reformpädagogische Ansätze – als reale Praxis – an Schulen und Hochschulen bisher auch nur ein Insel-Dasein. Das jahrzehntelange Innovationsgeschrei der E-Learning Branche hat sicherlich einiges dazu beigetragen, dass sich fortschrittliche Pädagogik nur langsam entfalten konnte.

Um Lernen zu organisieren, wurden schon immer Medien eingesetzt, die als Vermittler zwischen Lernenden und Lehrenden, Lernenden und Lernenden und den entsprechenden Inhalten fungierten. Jede Zeit nutzte dabei die ihr zur Verfügung stehenden Medien. Internet und Multimedia haben keinesfalls eine so grundlegend neue Situation herbeigeführt, wie es uns die IT-Industrie einreden will. Die Wahl der Medien ist nach wie vor ein wichtiger kreativer Akt, auch in konstruktivistisch angelegten Lernarrangements der Gegenwart. Wichtigste Voraussetzung für den Medieneinsatz ist allerdings, dass die Medien sich unkompliziert in ein gewähltes Lern-Setting integrieren lassen. Und hier wird dann auch schnell deutlich, an welchen Punkten die heutigen E-Learning-Technologien den Entwicklungen zeitgemäßer Pädagogik hinterherhinken. Hier einige typische Beispiele:

Die Schnittstellen gängiger Learning Management Systeme zur Präsenzphase sind notorisch unterentwickelt:
Beispiele: (1) Von Lernenden in der Selbstlernphase auf die Lernplattform eingestellte Begriffe werden häufig in der folgenden Präsenzphase als Moderationskarten benötigt. Die gängigen Learning Management Systeme (LMS) kann man nur mit einigem Programmieraufwand dazu überreden, diese Karten mit einem Klick als kompletten Klassensatz auszudrucken. (2) Die Bildschirmdarstellung von „user generated content“ im LMS berücksichtigt so gut wie nie die verschiedenen Bedingungen und Format-Beschränkungen unterschiedlicher Ausgabemedien (Beamer, Bildschirm, Drucker, PDF, Mobile, SmartBoard).

Die unausgereifte Usability von Learning Management Systemen erschwert Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung:
Um Content im LMS zu kreieren, braucht es jederzeit greifbar einen Edit-Button und einen Save-Button. Das ist alles; vielleicht noch einen Editor. Die Navigation meines Contents wird automatisch aus der Überschrift eines Eintrags erzeugt. Überschriften erzeugen automatisch Menüpunkte in der Navigation, und zwar auf der Hierarchieebene des Dokuments, auf der ich gerade arbeite. Beliebige Dokumente können dort, wo sie gebraucht werden, hochgeladen und verfügbar gemacht werden. Die Hierarchie der Navigationspunkte kann per drag&drop beliebig angepasst werden. All diese scheinbar selbstverständlichen Funktionalitäten werden von aktuellen Learning Management Systemen nur unangemessen und in schlechter Qualität (Usability) bereitgestellt.

Die Bedeutung realer Erfahrungsformen findet bei der Konzeption von Blended-Learning-Arrangements selten eine angemessene Berücksichtigung:
Bei naturwissenschaftlichen Experimenten z.B. ist es in den meisten Fällen erforderlich, diese mindestens einmal als Realexperiment durchzuführen und nicht ausschließlich als virtuelles Experiment, da sich bei Lernenden andernfalls unangemessene Vorstellungen über die Wirklichkeit ausprägen (Tuldoziecki, 2004, S.15). Didaktisch sinnvolle Schnittstellen zwischen Realität und online-gestützten Selbstlernphasen werden bei der Planung von Learning Management Systemen kaum berücksichtigt. Hilfreich wären z.B. intuitiv konfigurierbare Datenbanken und Formulare zur Dokumentation und Auswertung von Messergebnissen.

Die Orts- und Zeitunabhängigkeit digitaler Medien ist im Vergleich zu Buch oder Schreibheft heute noch stark begrenzt:
Die Abhängigkeit von Strom und Internetzugängen schränkt die flexible Nutzung digitaler Lernmaterialien deutlich ein. Einmal vergessen, den Akku aufzuladen, und schon gibt es keine Möglichkeit mehr, erforderliche Unterlagen zu bearbeiten. Auch in der Sonne auf der Wiese erweisen sich Notebooks und Mobilgeräte auf Grund der Lichtverhältnisse und den unübersichtlichen Kostenstrukturen von Internet-Flatrates dem Buch und dem Schreibheft deutlich unterlegen.

Fazit: Die E-Learning-Industrie als selbsternannte Avantgarde der Bildung hat es in fünfzig Jahren nicht geschafft, das Lernen zu revolutionieren. Ihr Aktionsradius und Einfluss sind zu gering, um die hohe, dynamische Komplexität gesellschaftlicher Bildung spürbar zu verändern. Ihre lehr-/lerntheoretische und didaktische Kompetenz ist zu grob und praxisfern, um binnendifferenzierte Lehr-/Lernkonzepte mit Hilfe von E-Learning-Technologien flächendeckend Realität werden zu lassen. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Lernenden selbst, professionell ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen und vermittlungswissenschaftlich geschulte Wissenschaftler wieder das Heft in die Hand nehmen und dabei deutlich machen, wie eine erfolgreiche pädagogische Praxis in der Wissensgesellschaft aussehen könnte und welche Rolle dabei die Medien spielen sollen. Die mit der Web 2.0 – Welle aufkommenden Kommunikations- und Gestaltungswerkzeuge können hier behilflich sein. Entscheidender Faktor für eine erfolgsversprechende Neuausrichtung ist jedoch ein Wechsel in den Avantgarden: Nicht die Technologen sollen uns erklären, wie mediengestütztes Lernen erfolgreich funktioniert, sondern die Lernenden und die professionellen Pädagoginnen und Pädagogen. An die Adresse der Verantwortlichen in der Bildungspolitik sei damit auch gesagt, dass es höchste Zeit ist, die Vergütung dieser Berufsgruppen deutlich besser zu stellen als die technologischer Berufsrichtungen.


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Kommentare

9 Antworten zu „Die E-Learning-Industrie hinkt den Potenzialen innovativer Pädagogik deutlich hinterher“

  1. Wolfgang Neuhaus

    Einige erste Diskussionsbeiträge zu diesem Themekomplex finden sich im Blog von Jochen Robes: http://www.weiterbildungsblog.de/2009/05/22/unsere-e-learning-klassiker/#comments

  2. eLearning besteht aus zwei Wörtern, auch wenn es zwanghaft zusammen geschrieben wird. Und zu beiden Bestandteilen bedarf es eines Unterbauses: das „e“ kann nicht einfach das „Learning“ mit-erfüllen oder mit-erklären, das „e“ macht die Auseinandersetzung mit dem „Learning“ keinen Dot überflüssig.

  3. […] Erst in allerjüngster Zeit, gestützt auf Social Software, Community-Erfahrungen im Web und auf Open Source-Plattformen wie Moodle, machen sich Industrie und Anwender Gedanken über ein stärkeres Miteinander von Bildungsmanagement (top down) und Lernerfahrungen (bottom up). Und das ist eine neue Qualität, auf die auch Wolfgang Neuhaus im Fazit seines Beitrages hinweist, wenn er an die “Lernenden und die professionellen Pädagoginnen und Pädagogen” appelliert, “das Heft in die Hand (zu) nehmen“. Lesenswert! Wolfgang Neuhaus, modellhaft …, 22. Mai 2009 […]

  4. Ungerechtfertigte Vorreiterrolle?

    Auf der Seite mediendidaktik.org hat Wolfgang Neuhaus den Artikel Die E-Learning-Industrie hinkt den Potenzialen innovativer Pädagogik deutlich hinterher veröffentlicht. Im Artikel kritisiert der Autor die Vorreiterrolle, die sich die E-Learning-Industrie selber verliehen hat, obwohl sie es bisher nicht geschafft habe, das Lernen und Unterrichten nachhaltig zu revolutionieren. Ihr Aktionsradius und Einfluss sei zu gering, um die hohe, dynamische Komplexität gesellschaftlicher Bildung zu verändern. Nur zu oft liegt der Fokus von E-Learning-Unternehmen auf Kosten und Effizienz …

  5. […] Dieser Ansatz ist nicht neu, findet er sich immer wieder in der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen des eLearning, aber er fasst nochmal einige Diskussionsstränge gut zusammen und ist durchaus diskutabel. Mehr gibt es hier: https://mediendidaktik.org/2009/05/22/die-e-learning-industrie-hinkt-den-potenzialen-innovativer-padagogik-deutlich-hinterher/ Tags: Lehre, Web

  6. Learning dot com

    Das die eLearning Industrie die Bildung nicht extrem revolutioniert hat mag sein, aber jetzt sehen wir der Realität mal ins Auge.
    Wie viele Lehrende setzen mehr als 3-7 der 126 vorgestellten Lehrmethoden in der Präsenz ein. Wenn man dann ein ausgeklügeltes Blended Learning Konzept realisiert und danach auch noch begeisterte Studierende mit den Worten „bitte mehr“ aus der Vorlesung entlässt, dann kann man sagen das nicht die eLearning Industrie schuld daran ist, das sich nichts extrem innovatives am Bildungsgereich getan hat, sondern, und bitte entschuldigt mir dies, die teilweise mediendidaktische, technologische und eMethodische Einfallslosigkeit“ mancher Lehrender. Man kann halt nicht alles genau so machen wie ich es eben im Kopf habe und wenns nicht so geht, dann taugt die Lernplattform nichts. Dies wird dann immer unter dem Deckmantel „die Technologie muß der Didaktik folgen“ entschuldigt. Stimmt ja prinzipiell, aber wenn Moodle halt kein LCMS ist, kann ich darin keinen Content erstellen, wenn ein Kaufprodukt, welches auch immer, halt keine Vokabelliste besitzt, kann ich halt keine verwenden. Es bleiben mir ja immer noch nach (Häfele,2004) 101 andere eLearning Methoden und nach obigem Link 126 andere Präsenzmethoden für ein „Mega Blended Learning Konzept“ übrig. Und so Lautstark haben die eLearning Anbieter in letzter Zeit auch nicht mehr „geschrien“ obwohl es doch einige vorzeigbare Produkte gibt, bzw einige Lehrende durch Ihren didaktisch/methodischen Einfallsreichtum oder guten Programmierkenntnisse (siehe online-Labore) tolle (Insellösungen) produziert haben.

  7. Wolfgang Neuhaus

    @Learning dot com:
    Solche Standardfloskeln wie „die teilweise mediendidaktische, technologische und eMethodische Einfallslosigkeit mancher Lehrender“ helfen uns nicht weiter (und werden den Kompetenzen insbesondere der hauptamtlichen Lehrer an unseren Schulen auch keinesfalls gerecht ), wenn es darum geht, die Qualität der Lehre zu verbessern. Statt als E-Learning Missionare durch die Bildungsinstitutionen zu ziehen, sollten wir uns nützlich machen, indem wir möglichst praxisnah die Merkmale guter Lehre identifizieren und vor diesem Hintergrund Online-Werkzeuge entwickeln, bzw. verfügbar machen, die für spezifische Lehr-Lernsituationen einen nachvollziebaren Nutzen haben. Dann werden sich solche Werkzeuge von selbst verbreiten. Denn generell lässt sich sagen, dass die bisher im E-Learning Bereich entwickelten Konzepte keinen ersichtlichen Vorteil gegenüber herkömmlichen Formen des Lehrens und Lernens aufweisen, siehe z.B. Kerres, 2007 : http://pages.citebite.com/y1i5h8u8i5tev

  8. It’s very nice to read this critical commentary of yours, Wolfgang!

    I’m wondering how to make this criticism deeper and higher and wondering where you might go next.

    „Deeper“ would mean explaining how it is that tens of millions of euros have been spent in Germany following the guidelines of the BMBF on a) creating e-learning bureaucracies and b) creating marketable „content“ — millions, simply millions, that might have been given to the instructors who are actually doing the teaching given instead to those who are not and so are not actively testing their theories in practice — the lifeblood of theory as of learning (or?).

    What is this mania for bureaucracies that is feeding off of tremendous public resources in the name of „e-learning“ and why are these bureaucracies so unbelieveably dominating and stupid? Should we be reading the sociologists on technical rationality, Marx on capitalism, Freud on sado-masochism or Nietsche on the will to power? Are we here to bitch and moan or come up with a real explanation? Have you come across other commentaries that explain this sorry state of affairs even better than you?

    „Higher“ means going around the madness to find the good stuff and make it work and support the colleagues along the way. My favorite reading this week is Henry Jenkins, „Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century, http://bit.ly/BKYLs, and especially the list of competencies they think we ought to be helping develop in young people, listed on page 4, right up front, and which is so good I’ll paste it here:

    Play — the capacity to experiment with one’s surroundings as a form of problem-solving

    Performance — the ability to adopt alternative identities for the purpose of improvisation and discovery

    Simulation — the ability to interpret and construct dynamic models of real-world processes

    Appropriation — the ability to meaningfully sample and remix media content

    Multitasking — the ability to scan one’s environment and shift focus as needed to salient details.

    Distributed Cognition — the ability to interact meaningfully with tools that expand mental capacities

    Collective Intelligence — the ability to pool knowledge and compare notes with others toward a common goal

    Judgment — the ability to evaluate the reliability and credibility of different information sources

    Transmedia Navigation — the ability to follow the flow of stories and information across multiple modalities

    Networking — the ability to search for, synthesize, and disseminate information

    Negotiation — the ability to travel across diverse communities, discerning and respecting multiple perspectives, and grasping and following alternative norms.

    Have you or your readers got another list, one, to paraphrase Sly Stone, that will take me higher?

    Enjoy!

    Bruce

    brucespear.com

  9. Wolfgang Neuhaus

    Hi Bruce

    as you may have read in many of the other threads of this Blog I totally agree with your criticism on the funding policies in the context of e-Learning. As I do not have any influence to the global players in this field I try to push innovative concepts of education in the concrete contexts that I am working in. So for example the secondary schools of Berlin and Brandenburg got a big funding to integrate Learning Management Systems to their schools and asked me to describe the additional value of such systems from a „didactical“ (I don´t know a proper term for the german word „Didaktik“, I dont think that „instructional theory“ or „instructional design“ means the same ..) point of view. I made clear that I cant see any additional value, which somehow interrupted the flow of this conference and may lead to a follow up meeting to find alternative perspectives of integrating media into innovative learning contexts. Here some links to this dicussion and my slides.

    By the way, you asked for other authors who share my criticism. I dont know many, but I get quite a lot of positive feedback to my writings. And there is
    a publication of the GMW which makes clear that also the main actors in our field are honestly looking for new realistic perspectives. I commented their self-criticism in another blog post: Die Basis eines Aufbruchs …

    Another field of my practice is, as you might know, teaching in the context of teacher education and natural sciences at Freie Universität Berlin. Here I just finished a seminar which is a prototype for a teaching concept that is oriented on product-oriented-concepts of teaching like for example John Dewey proposed already in 1916. I will present this concept in a talk on the GMW 2009 conference in september, maybe you will participate as well?

    The article of the McArthur Foundation is interesting, I am also following their publications with educational concern. So nice to hear from you, sorry for my poor english but I am not a native speaker like you …

    so mabye we´ll meet in september?

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