Warum wir kooperieren …

Für die Praxis von Lehr-Lernsituationen ist es bedeutsam, mit welchem Menschenbild wir als Lehrende auf unsere Zielgruppe zugehen, mit ihr interagieren. Ein neues, sehr freundliches und überzeugendes Menschenbild zeichnet Michael Tomasello mit seinen in der Didaktik bisher kaum beachteten anthropologischen Untersuchungen.

»Why we cooperate« bei Google Books

Menschen sind biologisch darauf ausgerichtet, in einem kulturellen Kontext heranzuwachsen. Um die biologische und kulturelle Evolution des Menschen zu erklären und um die Frage zu beantworten, warum einjährige Kinder – durch zahlreiche Studien belegt – anderen uneigennützig helfen, schlägt Michael Tomasello vor, eine angeborene „geteilte Intentionalität“ (shared intentionality) beim Menschen anzunehmen. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat kürzlich in seiner Reihe Boston Review ein Buch von Tomasello herausgegeben, in dem er seine Thesen anschaulich belegt, der Titel: „Why we cooperate“.

„Meine Hypothese lautet, daß die heute bei Kindern sichtbaren Kooperationsformen zu einem großen Teil die frühesten kollektiven Aktivitäten der Menschheitsgeschichte reflektieren“ (Tomasello 2010, S. 65) schreibt er in der beim Suhrkamp Verlag erschienen deutschen Übersetzung des Buches. „Am Anfang schaut ein Kind passiv zu, wie ein Erwachsener Zeitschriften in einen Schrank räumt. In der zweiten Runde kann der Erwachsene die Schranktür nicht öffnen, da er einen Stapel Zeitschriften in den Händen hält, und das Kind hilft ihm [unaufgefordert], die Tür zu öffnen. Nachdem das Kind den Ablauf verstanden hat, antizipiert es in der dritten Runde bereits den weiteren Verlauf und öffnet die Schranktür im voraus – wodurch das Wegräumen der Zeitschriften zu einer gemeinsamen Aktivität wird. In einigen Fällen weist das Kind den Erwachsenen sogar auf die Stelle hin, an der er die Zeitschriften bringen soll (indem es darauf zeigt). Im Laufe dieser drei Handlungsstufen entwickeln Kind und Erwachsener gemeinsame Erwartungen an das Verhalten des anderen. Letztlich beginnt das Kind sogar, die Handlung zu strukturieren und dem Erwachsenen mitzuteilen, daß »die Zeitschriften dorthin gehören«, was bedeutet, daß in dieser Aktivität bestimmte Tätigkeiten normativen Anforderungen genügen müssen. Für unsere entwicklungsgeschichtliche Perspektive ist es bemerkenswert, daß diese Kinder erst 18 Monate alt sind, kaum sprechen können und keine normativen Äußerungen im eigentlichen Sinne verwenden“ (Tomasello 2010, S. 76).

Dies ist eines von vielen Beispielen aus dem Buch, die Tomasellos Annahmen zu bestätigen scheinen. Auf der Homepage des Max Planck Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, an dem er seit 1998 tätig ist, stellt er eine Reihe von Videos bereit, die entsprechende Studien mit Kindern und mit Schimpansen dokumentieren: Videostudien .

Tomasello führt in seinem Buch zahlreiche experimentelle Belege an, die die Annahme bestätigen, dass das frühe Helfen bei Kleinkindern Ausdruck ihrer natürlichen Neigung ist, Mitgefühl zu zeigen. Der Altruismus bei Kleinkindern ist aus seiner Sicht nicht auf den Einfluß sozialisierender Prozesse innerhalb der Familie zurückzuführen.

Video: Arbeitsansatz von Michael Tomasello und Timothy Bromage
Der Arbeitsansatz von Michael Tomasello in einem Video anläßlich der Verleihung des Max-Planck-Forschungspreises 2010

Im Folgenden einige vertiefende Links zum Buch und zum Ansatz von Tomasello:

  • »Why we cooperate« bei Google books
  • Video: Menschliche Evolution, Michael Tomasello und Timothy Bromage
  • Videostudien: Altruistisches Helfen von Kleinkindern
  • Homepage des Lehrstuhls von Michael Tomasello
  • Quellen:

    • Tomasello, M. (2010). Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp

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